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Waidmarkt – Trauerort

Mittwoch 12 März 2025

Waidmarkt, Trauerort
März 2025
Der Karneval ist ein fünftägiges Volksfest am Ende des Winters, das ein ganzes Jahr Vorbereitung erfordert. Der Höhepunkt ist ein Zug durch das Stadtzentrum, bei dem der letzte Wagen fünf Stunden nach dem ersten abfährt. Hunderttausende bunt verekleideter Menschen ziehen schreiend, singend, trinkend und klatschend durch die Straßen; es gibt kaum Autoverkehr. Man erfährt erstmal nichts über Traditionen, Bedeutungen und volkstümliche Hintergründe. Es ist einfach das, was der Außenstehende sieht, wenn er durch die Straßen geht, in denen er temporär wohnt, einkauft und arbeitet. Handel, Arbeit und Bildung (negotium) sind zum Stillstand gekommen. Die Stadt ist ein verträumtes Gewöhl (otium). Doch der Tag beginnt mit Trauer. Es ist der Dritte Dritte, für viele eine unheilvolle Zahl, eingemeißelt in die Kölner Seele wie der Elfte Elfte. An diesem Tag geschah das Unfassbare - das Archivgebäude kippt heute vor sechzehn Jahren in eine Baugrube.
In diesem Jahr versammeln sich um 7.30 Uhr morgens 19 Menschen vor zwei Trauerkränzen an den Zäunen der Baustelle, um schweigend des Todes von Kevin und Khalil zu gedenken. Oberbürgermeisterin Reker fasste die Bedeutung der Versammlung in ein paar langsam gesprochenen Sätzen zusammen: Katastrophe, Unschuld, nicht vergessen, Bürgersinn, Kunst und Kultur, Erinnern und Gedenken.
Wer hörte zu? Zwei Angehörige eines Verstorbenen, drei Mitarbeiter der Stadtverwaltung (Planung, Bauen und Kunst), vier Vertreter der Initiative Archivkomplex, zwei Anwohner, die Café-Besitzerin und ihre Mitarbeiter, zwei Vertreter der Kölner Verkehrsbetriebe, der Präsident des Festkomitees mit seinem Trompeter, eine Politikerin und eine Künstlerin – beobachtet, fotografiert und interviewt von drei Reportern der Lokalpresse. Die Fahrer des Bürgermeisters und des Präsidenten blieben im Auto.
Wen hätte man sonst noch erwarten können? Die Verursacher des Einsturzes, die Kirche Sankt Georg, die geistlichen Beistand leistete, die beiden Gymnasien, die evakuiert wurden, die Menschen, die ihre Häuser verloren, die Archivmitarbeiter und Nachbarn, die mit dem Trauma zu leben lernten.
Wer hat möglichweise das Trauerereignis aus der Ferne beobachtet? Die Bewohner, Schüler und Unternehmer, die in die neuen Gebäude rund um den Unglücksort eingezogen sind. Einige von ihnen bezeichnen sich als Profiteure des Einsturzes. Zu Unrecht - sie zogen in die neuen Luxuswohnungen, die Jahre vor der Katastrophe entworfen wurden. Aber gefühlsmäßig zählt das nicht: Zum Zeitpunkt der Katastrophe, bei der zwei Menschen ums Leben kommen, kaufe ich an diesem Ort von meinem Ersparten eine Wohnung mit einem geräumigen und sonnigen Balkon.

Foto: Kay von Keitz




Waidmarkt, Städtebau

Donnerstag 20 Februar 2025

Waidmarkt, Städtebau
Donnerstag, 20. Februar 2025

Am Waidmarkt, im Zentrum Kölns, befinden wir uns in einem Wohngebiet, das auf drei Seiten von Hotelketten wie Motel One, Apart Hotel, Mercure Hotel, Premier Inn und Koncept Hotel International umgeben ist. An der vierten Seite, an der ruhmreichen Severinstraße, sollte man erwarten, Touristen und Menschen aus dem Viertel zu treffen. Die beiden Gruppen mischen sich aber nicht, wie das sonst überall auf der Welt üblich geworden ist. Sie gehen getrennte Wege: Die Kölner gehen zu Fuß über die Einkaufsstraße und den Waidmarkt in die Stadt. Die Hotelgäste kommen und gehen über die Autoschnellstraßen, sie fahren direkt in die Tiefgaragen.
Der Waidmarkt ist kein Markt und auch kein Platz oder eine Straße. Ich frage die Leute, was sie von dem Platz halten. Sie weichen der Frage nicht wirklich aus, vermeiden es aber hinzuschauen. Vielleicht bekomme ich bessere Antworten, wenn ich danach frage, was sie von diesem oder jenem Gebäude halten. Ich zeige auf ein Gebäude, aber ihr Blick folgt nicht meinem Finger. Das Gespräch stockt, sie laufen davon – nur, damit sie nicht hinschauen müssen? Sie ignorieren einfach die Gegebenheiten des Platzes: die weißen Putzfassaden, die Glaswände, die Aluminiumträger, die Poller und Fahrradabstellplätze oder die Asphaltflächen und den Brunnen aus früheren Zeiten. Das Auge findet anscheinend kein Halt an die glatten Oberflächen. Das Gespräch versandet unaufhaltsam, und wir sehnen uns nach dem Kaffeetrinken-Ritual.
Gehört der Waidmarkt zu den Nicht-Orten wie die Wartehalle eines Flughafens oder der Parkplatz eines Supermarkts? Ich frage noch einmal: „Welchen Charakter hat der Platz?“ „Ach, der Platz?“, lautet die Antwort. Dann frage ich nach dem Eindruck, den die neue Architektur macht. „Ah, die?“ Schließlich gehen die Leute einfach weiter.

Was sagen die Architekten und ihre Auftraggeber? „Wir als Entwickler haben großen Wert darauf gelegt, dass mit dem Waidmarkt ein lebendiges Quartier entsteht. Wir wollten kein reines Büroviertel, das am Abend verwaist.“ Das erfahrene Projektentwickler-Unternehmen weiß um den Stellenwert der richtigen Mischung in innerstädtischen 1a-Lagen: „Unser Ziel war und ist es, eine sich ideal ergänzende und langfristig beständige Infrastruktur zu schaffen – nicht nur für unsere Bewohner und Mieter, sondern für das gesamte Quartier und die Menschen, die es nutzen“, unterstreicht Thomas Frank, Projektleiter des Kölner Waidmarkt-Quartiers den Anspruch seines Frankfurter Unternehmens. „Die Attraktivität des Waidmarkts noch weiter zu steigern und damit auch ein Markenzeichen mitten in Köln zu setzen – das treibt uns an, die richtigen Mieter für unser Areal zu finden. Wir hatten von Anfang an den Anspruch, sowohl ein lebendiges urbanes Quartier zu schaffen als auch eine zukunftsweisende Architektur mit effizienter Flächennutzung zu verbinden. Der gelungene Erweiterungsbau des FWG- Gymnasiums fügt sich perfekt in dieses Konzept ein.“




Archiv bauen

Sonntag 19 Januar 2025

Januar 2025
2009 stürzt ein Archivgebäude in eine tiefe Baugrube. Die Archivalien werden unter Beton und Stahl begraben, aus Trümmern und Schlamm geborgen, zwischengelagert, gereinigt und inventarisiert und in ein neues Archivgebäude aufgenommen. Abgesehen von der Katastrophe und der Empörung über das Versagen der Behörden, zeugen diese Fakten von einem Wunder der Zivilisation.
‘Warum erzählen Sie nicht von diesem Wunder?’ frage ich den Archivar. ‘Praktisch das gesamte Archiv wurde gerettet, alles wird unter optimalen Bedingungen aufbewahrt, Sie haben viel mehr Personal, das Gebäude ist elegant und liegt in der Nähe der Universität. Soll ich weitermachen?’ ‘Nun, ja, wir sind auf Jahrzehnte Wiederaufbauarbeit eingestellt. Wir müssen unsere Arbeit gut machen und nicht zu sehr an die Katastrophe zurückdenken. Wir sind hier und jetzt zufrieden, ohne zu jubeln. Wir vollbringen keine Wunder, wir restaurieren die Archivalien.
Im Restaurierungsatelier wird ein Buch, das monatelang im schwarzen Wasser der Baugrube gelegen hat, in eine Vitrine gestellt. Der Archivar: „Sie denken vielleicht, Sie sehen ein irreparabel beschädigtes Buch, aber schau, sie können eine Seite des verklumpten Buches aufschlagen und den unbeschädigten Text lesen. Das Papier und die Tinte sind von unverwüstlicher Qualität. Dieses Buch wieder heil zu machen, das ist was Restauratoren heiß macht.’
Buchrestaurierung ist lustvoll und berfriedigend! Auf den Seiten 94 und 95 eines Stammbaums entdecke ich messerscharf handgeschriebene Namen: Nicolaus, Adelheid, Scheelen, Caspar von Renckhausen, von Klingenberg, Amalia von Homberg, N. von Altmannshoffen, Georg, senior, von Knöringen. Noch ein wenig Geduld, und wir wissen wieder genau, wie Adel Adel heiratete.
Als die Übergabe des Panorama-Waidmarkt-Logbuchs an das Kölner Archiv angesprochen wird, überkommt mich diese kleine, plötzliche Eingebung, das eigene Tun mit den Augen eines anderen zu sehen und daraus eine neue Perspektive, ja einen neuen Sinne abzuleiten. Wäre es nicht logisch, dass der Archivar in unserem Kunstwerk ein Archivgebäude sieht? Wir wollen einen Pavillon auf den Waidmarkt bauen, in den sich die Kölnerinne und Kölner zurückziehen, um das Provisorium Waidmarkt zu beobachten und Erkenntnisse vor Ort zu hinterlassen. Wir stellen uns eine Klause auf einem Platz vor, eine bewohnte Skulptur als Denkmal, einen Gartenpavillon als Vorboten eines Stadtparks und noch vieles mehr. Was einem alles einfällt, wenn das eigene Werk gedeutet wird! Aber in der Tat, wir bauen auf dem Waidmarkt ein Archiv.




Der Charakter Kölns

Mittwoch 18 Dezember 2024

Vom 29. November bis zum 12. Dezember spreche ich jeden Tag mit leuten, deren Leben seit dem Einsturz des Archivs in 2009 mit dem Waidmarkt verbunden ist, sei es als Bewohner, Aktivist, Historiker, Lehrer oder Unternehmer. Nach und nach entsteht ein Mosaik aus Fakten, Unsicherheiten, Erwartungen und Plänen, das durch Zynismus, Gleichgültigkeit und Begeisterung gefärbt ist. Jeder gibt sich Mühe, im Hinblick auf die Katastrophe, die langsame und unbefriedigende Rechtsprechung und die enorm lange Zeit des Wiederaufbaus, mir den Charakter der Stadt Köln zu zeichnen. Oft erzählen Befragten von sich selbst; hier versuchen sie, die Seele der Stadt aus ihrer Perspektive auf der 'Einsturzstelle' einzufangen. Über ihr eigenes Alltagsleben erfahre ich fast nichts.
Ich fotografiere ich den Waidmarkt, der in zwei Wochen zweimal sein Aussehen verändert. In wenigen Tagen wird eine Mauer, die die Baustelle umgibt, durch einen Zaun ersetzt und gleichzeitig wird das Loch vollständig mit länglichen Betonplatten abgedeckt. Dann heben zwei weitere Baukräne Bohrgeräte von Ort zu Ort, ein Spektakel aus grellem Lampenlicht und ohrenbetäubendem Lärm, der über die Schallwände dröhnt.
Zunächst zeichne ich jeden Tag im dritten Stock des Gymnasiums den Blick auf den Waidmarkt. Der Mann, der still und unsichtbar in einer Ecke des Klassenzimmers seine Arbeit verrichtet, lenkt die Schüler mehr als erwartet ab. Die Gastfreundschaft der Schule kollidiert mit dem vollen Stundenplan des Zeichen- und Malunterrichts, den räumlichen Arbeiten und den Prüfungen. Ich beschränke mich auf Bilder, Skizzen und Untergründe, die ich anderswo ausarbeite.
An einem Restauranttisch biete ich der Dichterin Monika Rinck, Professorin für Literatur an der Kölner Kunsthochschule der Medien, eine Zusammenarbeit an. Die Antwort erfolgt mit einer Geste: Sie holt aus ihrer Tasche den Gedichtband 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss ihrer Vorgängerin Barbara Köhler - die Sammlung, die auf meine Einladung hin in einer Skulptur von Observatorium geschrieben wurde. Darin verknüpft Barbara Gedanken zum Warten und zur Zeit mit urbanen Prozessen im Ruhrgebiet. Monika Rinck entwickelt im Rahmen des Panoramas Waidmarkt ein Semester Literatur und Stadt: Raumordnung in Sprache.




Warten

Dienstag 3 Dezember 2024

In der ersten Woche von Panorama-Waidmarkt treffe ich die Autorinnen und Autoren von 'Perspektiven Neuer Waidmarkt', Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kulturdezernats, die Leitung des Historischen Archivs, die Aktivistinnen und Aktivisten von Köln-kann-auch-anders, ArchivKomplex und Baumplatz, Journalistinnen und Journlisten von WDR, Kölnischer Rundschau und MeineSüdstadt, einige Kunstlehrinnen und Kunstlehrer, viele, viele Schülerinnen und Schüler und natürlich auch die Oberbürgemeisterin und den Kulturdezernenten. Alle, mit denen ich spreche, leben seit Jahren mit der Katastrophe und dem klaffenden Loch. Ich sammle ihre Geschichten.

Nach der Einweihung unseres Zeichenstudios im Friedrich-Wilhelm-Gymnasium gehe ich dort jeden Tag in den Zeichensaal im dritten Stock, von wo man die zwanzig Meter tiefe Baugrube vor einer romanischen Kirche zwischen gesichtslosen Zweckbauten im Herzen der Stadt bestaunen kann. Die Baugrube wird während meiner ersten Woche Tag für Tag weiter abgedeckelt. Ich teste die Idee, Tuschezeichnungen mit Farbe zu versehen.

Man wartete auf das Finden der Vermissten und die Bergung der Archivalien, man wartete auf Gutachten, auf die Klärung von Ursache und Verantwortung, man wartete auf das Ende eines langwierigen Prozesses … um nach 15 Jahren zu erfahren, dass es noch weitere acht Jahre dauern wird, bis die unterirdischen Bauten fertiggestellt sein würden. Im Jahr 2032 könnte alles vorbei sein. Die Erwartungen sind nach vier Terminverschiebungen und der Revidierung eines Ratsbeschlusses zur Schaffung einer unteridischen Halle für kulturelle Zwecke nicht mehr sehr hoch. Dann heißt es vielleicht in einigen Jahren auf einen Wettbewerb zu warten, der zu einem von allen geliebten Ort führen soll, an dem auch das Erinnern an Versagen und Schmerz seinen Platz findet. Wie, ja, wie wird hier der Alltag aussehen?